Toggle navigation

Demokratiekonferenz 2024: Erinnern nach rechter Gewalt

Um die 100 Personen hatten sich für die Veranstaltung ‚Erinnern nach rechter Gewalt‘ angemeldet. Neben der Eröffnung einer Online-Ausstellung sowie einem Vortrag zum Thema waren auch Betroffene zugegen, um von ihren jeweiligen Erfahrungen zu berichten.

In ganz Deutschland gehen Menschen gegen rechts auf die Straße, in Marburg hatten sich zuletzt 16.000 bei einer solchen Demonstration versammelt. So aktuell der Anlass ist — er blickt auch auf eine lange Geschichte zurück. Daher lud „misch mit! Miteinander Vielfalt (er)leben“, die Partnerschaft für Demokratie des Landkreises Marburg-Biedenkopf, am 13. Februar zur diesjährigen Demokratiekonferenz im Erwin-Piscator-Haus ein. Um die 100 Personen hatten sich für die Veranstaltung ‚Erinnern nach rechter Gewalt‘ angemeldet. Neben der Eröffnung einer Online-Ausstellung sowie einem Vortrag zum Thema waren auch Betroffene zugegen, um von ihren jeweiligen Erfahrungen zu berichten.

Simona Lison von „misch mit!“ führte durch den Abend im fast ausgefüllten Saal und kündigte zuerst Grußworte von Marian Zachow und Monika Stein an. Zachow, der Erste Kreisbeigeordnete des Landkreises, räumte gleich mit einem Widerspruch auf: Eine digitale Ausstellung analog zu eröffnen, unterstreiche nur, wie aktuell ihr Inhalt sei. Schließlich sei rechte Gewalt immer ein Thema in Deutschland gewesen — bis heute, wie die Online-Ausstellung ‚Rechte Gewalt von 1918 bis heute‘ eindrucksvoll darstellt. Dabei eröffne politisches Unrecht den Blick auf Wichtiges, etwa Zusammenarbeit, wie sie die Erinnerungskultur anleitet. „Wir brauchen diesen differenzierten Blick“, so der CDU-Politiker, „um Erinnerungskultur zu leben“. Bemerkenswert sei aber auch, dass der historische Blick bei allem Erschreckendem positive Erkenntnisse hervorbringe, etwa dass es auch in der Weimarer Republik engagierte Demonstrationen für Demokratie gegeben hat. In ihrer Rolle als Geschäftsführerin des bsj Marburg betonte Monika Stein, dass es sehr wichtig sei, die grausamen Taten rechter Gewalt auch deutlich als solche zu benennen. Der heutige Abend sei ein Versuch, sich damit auseinanderzusetzen, was die Zivilgesellschaft, Politik, Behörden und wir alle tun können, um Überlebende und Angehörige von Opfern rechter Gewalt solidarisch zu unterstützen. Die digitale Ausstellung habe eine hohe Bedeutsamkeit, da es gelte, sich die Vergangenheit vor Augen zu führen, um die Gegenwart besser zu verstehen.

Bei der anschließenden Eröffnung der Online-Ausstellung ‚Rechte Gewalt von 1918 bis heute‘ (www.rechte-gewalt.org) klärte Pia Thattamannil von „misch mit!“ sowohl über Hintergründe wie über Ziele der Ausstellung auf: Man wolle rechte Gewalt sichtbar machen, ihre Beständigkeit beleuchten und die Bandbreite der Opfer zeigen, an die zugleich erinnert wird. Ebenfalls im Mittelpunkt steht der Widerstand gegen rechte Gewalt, der zu mehr Widerstand ermutigen soll. Zwar liegt der Fokus der Ausstellung auf Hessen, sie kann aber ebenso gut für ganz Deutschland stehen.

‚Rechter Terror im Spiegel des Vergessens‘ lautete der Vortrag von Yvonne Weyrauch, der den entsprechenden Rahmen stellte. Weyrauch, die vergangenes Jahr gemeinsam mit Sascha Schmidt das Buch Rechter Terror in Hessen veröffentlicht hat, lieferte einen Abriss über das fehlende gesellschaftliche Bewusstsein für rechten Terror, indem sie beispielhaft Fälle vorstellte. Von den 1980ern bis in die Gegenwart wurde dabei klar: Aufklärung der Taten und ihre Konsequenzen müssen stets erst errungen werden. Das setze eine unermüdliche Aufarbeitung voraus, denn zumeist werden diese Verbrechen nicht als politisch motiviert gewertet. Getragen werde dieser Aufwand häufig von Angehörigen, auch die Überlebenden sehen sich gezwungen, in den Vordergrund zu treten. „Erinnern“, so jedoch einer ihrer abschließenden Gedanken, „ist aber die Aufgabe aller.“

Nach einer Pause stellte Thattamannil die vier Teilnehmenden der Gesprächsrunde vor: Eingefunden hatte sich die Soligruppe B. Efe 09 aus Kassel, die über den rassistischen Mordversuch an B. Efe im Jahr 2020 aufklärte, sowie İsmet Tekin in Begleitung von Rachel Spicker aus Halle, der einen rechten Anschlag an Yom Kippur 2019 überlebt hat. Dass nicht Efe selbst an der Gesprächsrunde teilnahm, sondern zwei motivierte Mitglieder seiner Soligruppe, erklärten sie so: Über die Tat zu sprechen, geht für Efe immer mit Retraumatisierung einher. Zu viert tauschten sich die Anwesenden darüber aus, wie sich die Zivilgesellschaft solidarisch zeigen, wie Anerkennung gefördert werden kann.

Efe, der aus der Türkei stammt, aber seit Langem in Deutschland lebt, war Minicar-Fahrer und wurde von einem Fahrgast erstochen. Die Vertreter:innen  seiner Soligruppe gaben seine Überzeugung wieder: „Er wollte mich töten.“ Folgen dieser Tat prägen den Alltag des Überlebenden bis heute, seither ist er arbeitsunfähig und tritt ungerne öffentlich auf.

Tekin fühlt sich seit dem Anschlag hierzulande nicht willkommen. Nachdem ein Attentäter daran gescheitert war, in eine Synagoge einzudringen, vollzog er seine Tat draußen. Heute betreibt er mit seinem Bruder das TEKIEZ, eine Anlaufstelle, die dazu einlädt, nicht zu vergessen, sondern weiterzuleben — „sich würdig zu erinnern“, wie Tekin es ausdrückt.

Sowohl in Kassel als auch in Halle ist man um Erinnerung bemüht. Autokorsos, Gedenktafeln und -tage stellen dabei jedoch nur die eine Seite dar: Intim berichtete die Gesprächsrunde, welchen Herausforderungen sie sich täglich stellen müssen, politischen wie psychosozialen. Dass etwa häufig die Angehörigen vonseiten der Politik außen vor gelassen werden und sich die Überlebenden in ihren Traumata zurechtfinden müssen.
„Zusammenarbeit ist schön und schwer“, so eine der Erkenntnisse dieser Demokratiekonferenz — sie schaffe Stärke und sei nicht nur persönlich für die Betroffenen wichtig, sondern reiche der gesamten Gesellschaft die Mittel an die Hand, gemeinsam eine bessere Zukunft zu gestalten. Bei allen Unterschieden der Fälle wurde immer wieder deutlich: Sich angemessen zu erinnern ist ein andauernder und notwendiger Kraftakt.

Wie umfangreich dieser Kraftakt ist, stellte sich bei der Fragerunde heraus. Auf die Frage, ob und welche Unterstützung Efes Tochter zukomme, folgte die Einsicht, dass die Konsequenzen einer solchen Tat mannigfaltig sein können — und das ganze Umfeld nachhaltig betreffen. Ebenfalls besprochen wurden die Hürden, die eine fehlende politische Anerkennung der Mordversuche mit sich bringen.
Welche langfristigen Früchte tragen derzeitige Bemühungen um Erinnerungskultur? Um auch individuelle Taten im gesellschaftlichen Bewusstsein zu verankern, so ein weiterer Punkt, müsse den Betroffenen zugehört werden, ja, aber auch die Forderung nach einer überarbeiteten staatlichen Entschädigungsstruktur wurde laut: „Erinnern heißt finanzielle Umverteilung.“ Die ganze Komplexität rechten Terrors in Deutschland zu erfassen und sich an ihn zu erinnern heißt, nicht einzelne Ereignisse, sondern ihre Zusammenhänge zu verstehen. Erinnern nach rechter Gewalt — so das Fazit der diesjährigen Demokratiekonferenz — ist tatsächlich Aufgabe aller, und diese Aufgabe ist nie erledigt.