Toggle navigation

Jugendliche entwickeln eigenes Partizipationsprojekt

Ein Ärgernis führte zu einem spannenden Prozess von Selbstbestimmung und Solidarität innerhalb einer Schulgemeinschaft.

Die Ausgangslage gestaltete sich wie folgt: Die Mädchen aus den 9ten und 10te Klassen waren genervt. Immer wenn sie die Toilette aufsuchen wollten, mussten sie sich erst einen Schlüssel im Sekretariat holen. Der Grund lag offenbar bei den „Kleinen“, die ihre Hygieneartikel in der Toilette entsorgten und damit regelmäßig Überschwemmungen verursachten. Der Unmut landete direkt und unverblümt bei der Mitarbeiterin des bsj Marburg, die als Schulsozialarbeiterin an dem Schulstandort tätig ist.

Nach dem Ärger der älteren Jugendlichen „Jemand muss den Jüngeren mal klare Ansagen machen!“ weitete sich in der Diskussion zunehmend auch der Blick und ein Verständnis für die Jüngeren. „Woher sollen sie es denn wissen und was wusste ich eigentlich damals über mich, meinen Körper und alle Veränderungen, die die Pubertät mit sich bringen können? Nicht viel.“ Die Heranwachsenden beschlossen, sich als Gesprächspartner*innen für alle Fragen rund um Sex, Pubertät, Unsicherheiten, Körperlichkeit, Geschlechter und Diversität anzubieten. Der Ärger über die verschlossenen Toiletten hatte den Weg für ein spannendes Partizipationsprojekt innerhalb der Schulgemeinschaft bereitet.

Die älteren Jugendlichen überlegten, direkt mit den Jüngeren zu sprechen und sich als Gesprächspartnern*innen in die unteren Jahrgangsstufen einzuladen. Für die Klärung von Sachfragen erklärte sich auch der Fachlehrer für Biologie zur Beratung bereit. Coronabedingt war aber ein Besuch der Klassen nicht erlaubt, sodass die Jugendlichen gemeinsam mit der Schulsozialarbeiterin ein anderes Vorgehen planten. Die pädagogische Fachkraft besuchte nun im Auftrag der älteren Jugendlichen die unteren Klassen, transportierte deren Idee und ermunterte die Jüngeren, Fragen zu stellen. Diese schrieben ihre Probleme und Fragen auf Kärtchen und gaben sie in verschiedenen Sammelstellen der Schule ab. Diese wurden von der Schulsozialarbeiterin in einer Datei gesammelt und anonymisiert den älteren Jugendlichen übergeben. In mehr als 100 Kärtchen befragten die Jüngeren ihre Schulkamerad*innen um Rat. Von „Woher weiß ich, dass mich einen Junge mag?“ bis zu Fragen nach körperlichen Veränderungen, Einordnungen von Normalität und Diversität bis hin zu Berührungen, Küssen und Sex erreichten die älteren Jugendlichen. Diese bildeten Gruppen, in denen sie die Fragen diskutierten und sich mit den Themen intensiv auseinandersetzten. Ihre Antworten, Erklärungen und Annäherungen an die diversen Themen fassten sie in einem Video zusammen, welches sie den unteren Klassen übergaben.
Die Idee der älteren Jugendlichen, mit den Jüngeren in einen (coronabedingt schriftlichen und filmischen) Dialog zu treten, hat die Schulgemeinschaft in hohem Maße gestärkt. Die Homogenität der Jahrgänge wurde zugunsten eines Schulterschlusses in einem sehr persönlichen Thema aufgelöst. Die Auseinandersetzung und die Diskussionen über die eingebrachten Themen der „Kleinen“ war für die Abschlussklassen sehr bereichernd und löste Überlegungen aus von „Wie war das bei mir, wie hat sich das entwickelt, wie war das bei Dir, was sind gesellschaftliche Tendenzen, Werte und Normen, was lösen sie aus, wie will ich damit umgehen, was sollen wir den Kleinen raten?“  Die Jüngeren profitierten sehr von dem Projekt, denn sie erhielten Rückmeldungen zu ihren diversen Fragestellungen. In diesem Fall nicht von Fachexpert*innen, sondern von Menschen, die ihre Phase gerade durchlaufen haben und sich daher noch gut an die Herausforderungen der frühen Adoleszenz erinnern und einfühlen können.

Das Vorhaben wurde ausgehend von einem selbsterkannten Bedarf direkt von Jugendlichen in Kooperation mit der Schulsozialarbeit entwickelt und zeigt daher ein hohes Potential an Selbstwirksamkeit, Partizipation und Solidarität innerhalb der Schulgemeinschaft.